«Die Mittel reichen nicht mehr aus für die weltweit wachsenden Bedürfnisse»

    «Das vergangene Jahr war für viele Menschen auf der Welt ein schwieriges und tragisches Jahr», sagt Barbara Hintermann, Generaldirektorin Terre des hommes Lausanne. Sie und ihr Team setzten sich unermüdlich für die notleidenden Kinder ein und versuchen dramatische Situationen soweit als möglich zu entschärfen und den Kindern die Chance geben, optimistischer in die Zukunft zu blicken. Nebst den Krisen sind aber auch zunehmend die finanziellen Mittel eine grosse Herausforderung.

    (Bilder: zVg) Die weltweit 2300 Mitarbeitenden von Terre des hommes setzen sich unermüdlich für das Wohl der Kinder ein und geben nie auf, auch wenn sie selbst betroffen sind.

    Momentan haben wir zahlreiche grosse humanitäre Krisen auf der Welt. Wie spüren Sie bei Terre des hommes (Tdh) diese multiplen langanhaltenden Krisen und wie setzten Sie diesbezüglich die Prioritäten?
    Barbara Hintermann: Das ist richtig: Humanitäre und Entwicklungsorganisationen sind mit zahlreichen Krisen konfrontiert, und die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung nehmen stetig zu. Als Kinderrechtsorganisation konzentrieren wir uns besonders auf die Auswirkungen dieser Krisen auf Kinder. Sie sind am stärksten von den Folgen von Kriegen und Klimawandel betroffen, obwohl sie am wenigsten dafür verantwortlich sind. Unsere Priorität ist es, Kinder zu schützen und Nothilfe zu leisten. Darüber hinaus bieten wir Kindern und ihren Familien in traumatischen Situationen wichtige psychologische Unterstützung. Wo immer möglich, beziehen wir Kinder aktiv in unsere Entscheidungen ein, damit sie ihre Zukunft und die Zukunft unserer Welt mitgestalten können.

    Zwei humanitäre Krisen, die momentan häufig in den Schlagzeilen sind, sind in Gaza und in der Ukraine. Wie unterstützt Tdh die Menschen dort?
    Beide Kontexte führen zu dramatischen Situationen für die Kinder und ihre Familien. Unsere Teams unterstützen geflüchtete ukrainische Familien in den Nachbarländern der Ukraine und leisten humanitäre Hilfe für intern vertriebene Familien im Westen des Landes. Für die Zivilbevölkerung in Gaza haben unsere Teams in Ägypten Nothilfepakete zusammengestellt. Wasser, Nahrungsmittel und Erste-Hilfe-Pakete für rund 30’000 Personen wurden an Kinder und Familien verteilt, die alles verloren haben und vom Krieg eingeschlossen sind. Sobald es die Situation erlaubt, werden wir den Kindern in Gaza erste psychologische Hilfe anbieten.

    Barbara Hintermann, Generaldirektorin Terre des hommes Lausanne: «Die Motivation unserer Mitarbeitenden und die positiven Beispiele sind eine ständige Inspiration.»

    Wie kann man eine schnelle Reaktion auf Krisen gewährleisten?
    Sowohl in Gaza als auch in der Ukraine waren Tdh-Mitarbeitende bereits vor Ort, als der Krieg ausbrach. Dies und unsere langjährige Präsenz in den Nachbarländern ermöglichten es uns, einen Überblick über die Situation und die Bedürfnisse zu gewinnen und unsere Einsätze rasch den Umständen anzupassen. Eine gute Vorbereitung der Teams auf einen Notfall ist entscheidend, um so schnell wie möglich reagieren zu können.

    Wie arbeitet Tdh mit lokalen Gemeinschaften und Partnern zusammen, um sicherzustellen, dass die Hilfe den Bedürfnissen der Betroffenen gerecht wird?
    Die Zusammenarbeit mit lokalen Partnerorganisationen ist uns sehr wichtig. So haben wir zum Beispiel in Gaza mit dem Palästinensischen Roten Halbmond beim Transport und der Verteilung von Nothilfepaketen zusammengearbeitet. Die Mehrheit unseres Personals im Ausland sind lokale Mitarbeitende. Sie sind mit dem Kontext und der Kultur bestens vertraut, nah am Geschehen und oft sogar selbst von der Situation betroffen. Ihre Stärke, ihre Resilienz und ihr Engagement sind für uns alle sehr inspirierend.

    Wie werden Aktivitäten und Projekte in Kontexten aufrechterhalten wie zum Beispiel die Hungerkrise in der Sahelzone, die weniger internationale Aufmerksamkeit erhalten?
    Dass ein Kontext, in dem wir arbeiten, international wenig Beachtung findet, ist für uns kein Grund, ihn zu verlassen. Im Gegenteil, es motiviert uns umso mehr, uns für die Kinderrechte in diesen Ländern einzusetzen. Dabei ist es uns wichtig, innovative Ansätze in unsere Arbeit zu integrieren. In Burkina Faso haben wir das digitale Tool «IeDA» (Integrated e-Diagnostic Approach) entwickelt, das die Gesundheitszentren unter anderem bei der Erkennung von Mangelernährung unterstützt. Inzwischen wird es fast im ganzen Land eingesetzt, und weltweit wurden bereits mehr als 20 Millionen Konsultationen von Kindern durchgeführt.

    Wie wird sichergestellt, dass die Unterstützung auch langfristig positive Auswirkungen hat?
    Unsere Projekte sind grundsätzlich so angelegt, dass sie den Familien langfristig zugutekommen. In der Ukraine haben wir beispielsweise in der ersten Phase des Krieges Nothilfe für Binnenvertriebene in der Region Ivano-Frankisk geleistet, diese aber sehr schnell mit einer längerfristigen Aktion verknüpft: der Einrichtung von sogenannten «Resilience Innovation Facilities», die Kindern die Chance geben, optimistischer in die Zukunft zu blicken.

    Welche Bilanz können Sie bezüglich 2023 ziehen?
    Das vergangene Jahr war für viele Menschen auf der Welt ein schwieriges und tragisches Jahr. Kriege und Naturkatastrophen haben viel Leid verursacht und der wieder aufgeflammte Krieg im Gazastreifen hat ein humanitäres Ausmass erreicht, das eine ganze Generation tief traumatisiert zurücklassen wird. Während wir mit Krisen an allen Fronten konfrontiert sind, verändert sich gleichzeitig die Spendenlandschaft und die Mittel reichen nicht mehr aus, um den weltweit wachsenden Bedürfnissen gerecht zu werden. Das stellt uns, alle NGOs, aber auch die UN-Organisationen vor grosse Herausforderungen.

    Welche Ziele wollen Sie mittelfristig erreichen?
    Im Gesundheitsbereich wollen wir den Zugang zur Gesundheitsversorgung für Mutter und Kind erleichtern und das Gesundheitspersonal in der Anwendung innovativer Tools schulen. Im Bereich Migration setzt sich Tdh für den Schutz der Rechte von Kindern und Jugendlichen ein, um ihre Integration und Autonomie zu fördern. Bis 2030 wollen wir ausserdem unsere CO2-Emissionen um 50% reduzieren. Für zukünftige Generationen zu arbeiten, bedeutet auch, gegen die dramatischen Auswirkungen des Klimawandels zu kämpfen.

    Welche Augenblicke des Engagements von Terre des hommes machen Ihnen Mut für die Zukunft?
    Wir haben weltweit 2300 Mitarbeitende, die sich unermüdlich für das Wohl der Kinder einsetzen und nie aufgeben, auch wenn sie oft selbst betroffen sind, wie zum Beispiel in Gaza. In Bangladesch habe ich letztes Jahr junge Mütter besucht, die dank unserer Projekte heute selbstständig sind. Eine Frau hat eine Näh-Ausbildung gemacht und führt nun erfolgreich ihr eigenes Geschäft. Solche Geschichten motivieren mich, mich trotz aller Herausforderungen weiter zu engagieren. Die Motivation unserer Mitarbeitenden und die positiven Beispiele sind eine ständige Inspiration.

    Interview: Corinne Remund


    Terre des hommes ist eine 1960 gegründete unabhängige, neutrale und unparteiische Schweizer Organisation, die sich dafür engagiert, bedeutsame und nachhaltige Veränderungen im Leben von Kindern und Jugendlichen zu bewirken, insbesondere der am stärksten gefährdeten. Es gilt, ihr Wohlergehen und die effektive Erfüllung ihrer Rechte zu gewährleisten, wie sie in der Kinderrechtskonvention und in anderen relevanten Menschenrechtsinstrumenten festgelegt sind. Um einen Unterschied zu machen, legt Terre des hommes besonderen Wert auf die Bereiche der Gesundheit von Mutter und Kind, des Zugangs zur Justiz und der Migration von Kindern und Jugendlichen. Terre des hommes fördert die Partizipation von Kindern und Jugendlichen und setzt sich für die Achtung der Kinderrechte ein, indem sie ihnen hilft, ihre Bedürfnisse und Interessen auszudrücken. Terre des hommes arbeitet in fragilen Umgebungen und Konfliktgebieten, aber auch in stabilen Umgebungen.

    CR

    www.tdh.org

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